Brauchen wir Normen für das Product Line Engineering – und wenn ja, wie viele?

by Danilo Beuche

Mai 2021

Dieser Artikel wurde von Michael Jastram übersetzt und ist am 03. Juni 2021 in seinem  Newsletter "SE-Trends.de" erschienen.

Vollständige Offenlegung: Sowohl ich als auch andere pure-systems Teammitglieder waren und/oder sind in internationalen Standardisierungsgremien wie AUTOSAR, OASIS und ISO engagiert. Ich vertrete auch pure-systems in der INCOSE Product Line Working Group. Dies wird also kein Beitrag eines objektiven Zuschauers sein, sondern eher der eines Mannes, der einige Zeit seines Lebens damit verbracht hat, dabei zu helfen, dass Standards geschrieben und in der Praxis angewendet werden.

Als Ergebnis einer Standardisierungsaktivität, die vor ein paar Jahren als Initiative von Mitgliedern der Product Line Engineering Working Group der INCOSE gestartet wurde, wurde vor ein paar Tagen ein neuer Standard zum Product Line Engineering (PLE) von der ISO veröffentlicht: die ISO26580:2021 (Software and Systems Engineering – Methods and Tools for the Feature-Based Approach to Software and Systems Product Line Engineering). Dies war der Auslöser für meinen Beitrag, da ich Ihnen gerne einige Fakten und meine Ansichten über Standards im PLE mitteilen möchte.

Sharepic: Auf blau-grünem Hintergrund wurde Text platziert "Do we need standards for product line engineering and if so, how many?" Logoeinbindung von: OASIS OPEN, OMG and AUTOSAR
© pure-systems GmbH

Bevor wir tiefer in diese Frage eintauchen, sollten wir uns ansehen, was es bereits gibt: Selbst die ISO hat bereits mehrere Normen zum Thema PLE in der Normenfamilie ISO 2655x/2656x, mit der ISO 26550 als Grundlage für alle diese Normen (einschließlich der ISO 26580 als Spezialisierung der Konzepte in ISO 26550ff).

Aber es gibt noch mehr: Seit AUTOSAR 4 bietet dieser Standard Metamodellelemente zur Darstellung von Konzepten der architektonischen Variabilität in der automobilen Software-Domäne, einschließlich eines vollständig definierten Metamodells für die Feature-Modellierung bis hin zur XML-Datenrepräsentation. Dies ist eindeutig ein Standard, der Datenmodelle für die werkzeugbasierte Zusammenarbeit definieren soll. Er definiert nicht, wie Sie die Konzepte verwenden würden, um PLE auszuführen. Und er ist auf eine Sache fokussiert: die Automobilsoftware-Architektur- und Implementierungsdomäne.

Derzeit werden weitere Standards mit eingebetteten Aspekten von Product Line Engineering entwickelt, wie z.B. OMG’s SysML V2 und die OASIS Variability Exchange Language (VEL), die sich beide mit der Herausforderung befassen, maschinenlesbare Informationen in Bezug auf Variabilität (die ein Kernkonzept von PLE ist) auf standardisierte Weise darzustellen.

Der Anwendungsbereich von SysML V2 ist das modellbasierte Systems Engineering, während VEL als Sprache für den Austausch von Variabilitätsinformationen zwischen dem PLE Factory Configurator (dies ist übrigens ein von ISO26580 definierter Begriff und bezieht sich auf Werkzeuge wie pure-systems‘ pure::variants und Biglever Gears) und Autorenwerkzeugen für Shared Superset Assets (wie z.B. Anforderungsmanagement- oder MBSE-Werkzeuge) dienen wird.

Im Gegensatz zu den ISO-Standards für PLE konzentrieren sich alle anderen oben genannten Standards auf die Bereitstellung konkreter Mittel zum Datenaustausch und zur Datenverarbeitung, lassen aber den methodischen Aspekt vermissen, der in den ISO-Standards vorhanden ist.

Alle diese Standards haben tatsächlich ihren Platz im großen Ganzen. Betrachten wir die Automobilindustrie. Diese entwickelt zukünftige Autos und zugehörige Infrastrukturen (z. B. Smart Highways) mit Hilfe von modellbasiertem Systems Engineering, das sie dann als Input für eine AUTOSAR-basierte Softwareentwicklung verwendet. Die Variabilität ist mit diesen verschiedenen Modellen / Datendomänen verbunden und muss ganzheitlich kontrolliert werden, wobei VEL als Lingua Franca verwendet wird, um Variabilitätsinformationen zwischen verschiedenen Werkzeugen auszutauschen, wie z. B. einem SysML-V2-Modellierungstool, AUTOSAR-Tooling und dem PLE-Fabrikkonfigurator-Tool. Die ISO-Normen helfen uns, eine Methodik aufzustellen und zu verstehen, welche Anforderungen die Werkzeuge und die Organisation erfüllen müssen.


Über den Autor

Prof. Dr. Danilo Beuche ist Mitgründer und CEO von pure-systems und einer der führenden Köpfe im Product Line Engineering (PLE). Danilo wird von der Idee angetrieben, Unternehmen dabei zu helfen, bessere und langlebigere Produkte zu entwickeln und dabei stets auf wirtschaftliche Wiederverwendung und Nachhaltigkeit zu achten. Im Jahr 2001 war er Mitbegründer von pure-systems, einem Softwareunternehmen, das sich auf Dienstleistungen und Werkzeugentwicklung für die Anwendung von Produktlinientechnologien in eingebetteten Softwaresystemen spezialisiert hat. Als Marktführer im Bereich PLE hilft pure-systems weltweit tätigen Konzernen und mittelständischen Unternehmen, die Kosten niedrig zu halten und gleichzeitig die Qualität und Sicherheit ihrer Produkte zu verbessern.

Vor der Gründung von pure-systems arbeitete Danilo an der Universität Magdeburg an der Werkzeugunterstützung für featurebasierte Softwareentwicklung. Seit 2016 ist er zudem Honorarprofessor am Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI) der Universität Leipzig.


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